10

 

Nikolai erwachte in völliger Dunkelheit, seinen Kopf gegen den Sarg eines offenbar wohlhabenden Montrealer Bürgers gelehnt, der bereits seit siebenundsechzig Jahren tot war.

Der Marmorfußboden des Privatmausoleums hatte ihm nur ein paar Stunden unruhigen Schlaf beschert, aber das genügte Niko. Die Nacht war schon gefährlich nahe auf die Morgendämmerung zugekrochen, als er Jakuts Anwesen verlassen hatte, und er hatte das Tageslicht schon an schlimmeren Orten verschlafen als auf diesem Friedhof, den er am nördlichen Stadtrand gefunden hatte.

Mit einem Stöhnen setzte er sich auf, klappte sein Handy auf und sah auf dem Display nach der Uhrzeit. Scheiße, erst kurz nach ein Uhr mittags. Immer noch sieben oder acht Stunden, die er hier drin zu warten hatte, bis die Sonne unterging und es für ihn wieder sicher war, nach draußen zu gehen. Noch sieben oder acht Stunden, und vom tatenlosen Herumsitzen fühlte er sich schon jetzt ganz kribbelig.

In Boston fragten sich die anderen sicher schon, wo er abgeblieben war. Niko drückte die Kurzwahltaste zum Hauptquartier des Ordens. Kaum hatte es zweimal geklingelt, nahm Gideon ab.

„Niko, verdammt noch mal. Wird auch Zeit, dass du dich meldest." Der leichte britische Akzent des Kriegers klang ein wenig rau. Kein Wunder, schließlich rief Niko ihn am helllichten Tag an. „Schieß los. Alles okay mit dir?"

„Ja, alles bestens. Meine Mission hier in Montreal ist komplett den Bach runter, aber davon abgesehen alles wunderbar."

„Wohl kein Glück gehabt, Sergej Jakut zu finden, was?"

Niko kicherte leise. „Oh doch, den Mistkerl hab ich gefunden. Der Gen Eins ist putzmunter und quietschfidel, er lebt im Norden der Stadt wie irgend so ein Möchtegern-Dschingis Khan."

Er gab Gideon eine Kurzzusammenfassung von allem, was seit seiner Ankunft in Montreal passiert war - von dem Empfang, den Renata und die anderen Wachen ihm mit ihrem Hinterhalt bereitet hatten, den seltsamen Stunden, die er auf Jakuts Landsitz verbracht hatte, und den Höhepunkt, als er die Leichenhalde auf dem Gelände entdeckt hatte und danach vom Anwesen geflogen war.

Er beschrieb den versuchten Mord auf den Gen Eins und die unglaubliche Rolle, die Mira bei seiner Vereitelung gespielt hatte. Aber was er selbst in Miras Augen gesehen hatte, ließ er aus. Er sah keinen Grund, die Einzelheiten einer Vision preiszugeben, die, auch wenn Renata darauf bestand, dass Mira sich nie irrte, in etwa null Chancen hatte - nein, streichen wir das, exakt  null Chancen hatte, Wirklichkeit zu werden.

Das zu wissen hätte ihn eigentlich erleichtern sollen. Das Allerletzte, was er gerade brauchen konnte, war, etwas mit einer Frau anzulangen, und schon gar nicht mit so einer eiskalten Nummer wie Renata. Die eine Blutsverbindung mit Jakut eingegangen war, seine Stammesgefährtin war. Der Gedanke nagte immer noch an ihm, viel mehr, als er sollte.

Und die Tatsache, dass selbst die leiseste Erinnerung an diesen Kuss ihm einen Ständer bescherte, der so hart war wie die Granitgruft, die ihn umgab, trug auch nicht direkt zu seiner guten Laune bei.

Er wollte sie, und als er den Landsitz verlassen hatte, hatte er einen Sekundenbruchteil lang gedacht, dass sie ihm vielleicht nachkommen würde. Er hatte keinen Grund, das anzunehmen, aber irgendwie hatte er so ein Gefühl gehabt, dass Renata vielleicht hinter ihm herlaufen und ihn bitten würde, sie dort rauszuholen.

Und wenn sie es getan hätte? Himmel, dann wäre er wohl dumm genug gewesen, ernsthaft darüber nachzudenken.

„Also", sagte er zu Gideon und kehrte in die Wirklichkeit zurück. „Tatsache ist, dass wir bei Sergej Jakut mit keinerlei Bereitschaft zur Zusammenarbeit rechnen können. Er hat mir im Prinzip gesagt, ich soll's mir in den Hintern schieben, und das war noch, bevor ich ihn einen kranken Ficker genannt habe, der einen Maulkorb und ein Würgehalsband braucht."

„Scheiße, Niko", seufzte Gideon. Wahrscheinlich fuhr er sich am anderen Ende gerade frustriert mit der Hand durch das wild abstehende blonde Haar. „Das hast du wirklich zu ihm gesagt - zu einem Gen Eins? Du hast verdammtes Glück, dass er dir nicht die Zunge rausgerissen hat, bevor er dich rausgeschmissen hat."

Da war wohl was dran, musste Nikolai vor sich selbst zugeben. Und er hätte nicht nur seine Zunge verloren, wenn Jakut seine Reaktion auf Renata mitbekommen hätte. „Weißt du, ich bin allergisch gegen Arschkriechen, auch wenn der Arsch zufällig einem Gen Eins gehört. Wenn das hier eine reine PR-Aktion war, habt ihr euch den Falschen ausgesucht."

„Ach was", kicherte Gideon nach einem weiteren leisen Fluch. „Dann kommst du jetzt zurück nach Boston?"

„Ich sehe keinen Grund, hier noch länger rumzuhängen.

Außer du denkst, Lucan drückt ein Auge zu, wenn ich mich entschließen sollte, zurückzugehen und einen Brandsatz in Jakuts Gruselkabinett zu werfen. Wenn ich ihn zumindest eine Weile aus dem Verkehr ziehe."

Er machte nur Spaß . . fast nur Spaß. Aber die Stille, die ihm von Gideons Seite antwortete, sagte ihm, dass sein Mitstreiter genau wusste, was gerade in seinem Kopf vorging.

„Du weißt, dass du so was nicht machen kannst, mein Alter. Der Typ ist tabu."

„Und wie mich das ankotzt", murmelte Nikolai.

„Glaub ich dir. Aber für so was ist die Agentur zuständig, nicht wir."

„Sag mir doch mal, inwiefern Jakut sich von den Rogues unterscheidet, die wir von den Straßen pusten, Gid.

Verdammt noch mal, nach dem, was ich von ihm gesehen habe, ist er viel schlimmer. Die Rogues haben wenigstens die Entschuldigung, dass sie Blutjunkies sind. Jakut hat keine Entschuldigung, diese Menschen da draußen zu jagen.

Er ist ein Raubtier, ein Killer."

„Er hat seine Rechte", sagte Gideon entschieden. „Selbst wenn er kein Gen Eins wäre, er ist immer noch Zivilist, immer noch ein Mitglied des Stammes. Wir kommen nicht an ihn ran, Niko. Nicht ohne jede Menge Ärger loszutreten.

Also, was immer du gerade denkst - vergiss es lieber."

Niko atmete hart aus. „Vergiss, dass ich es gesagt habe.

Wann soll ich mich heute Abend nach meinem Flieger nach Boston umsehen?"

„Ich werde ein paar Anrufe machen müssen, um eine kurzfristige Starterlaubnis zu kriegen, aber der Privatjet wartet immer noch auf dem Flughafen auf dich. Ich simse dir die genaue Zeit, sobald die Bestätigung reinkommt."

„Okay. Dann sitze ich weiter hier und drehe Däumchen, bis du mir grünes Licht gibst."

„Wo bist du überhaupt?"

Nikolai sah auf den Sarg hinter sich, den zweiten auf der anderen Raumseite und die Bronzeurne, die auf einem Sockel an der Rückwand des dunklen Mausoleums Staub ansetzte. „Ich hab im Norden der Stadt ein ruhiges Plätzchen gefunden, um mich auszuruhen. Hab geschlafen wie ein Toter. Oder jedenfalls bei einem."

„Apropos", sagte Gideon. „Wir haben einen Bericht über einen weiteren Gen Eins-Mord in Europa reinbekommen."

„Scheiße. Der macht sie alle wie Fliegen, was?"

„Oder versucht es zumindest, so wie es aussieht. Reichen in Berlin kümmert sich gerade um die Einzelheiten. Hab eine Mail von ihm bekommen, dass er sich heute noch mal meldet und uns auf den neuesten Stand bringt."

„Gut zu wissen, dass wir da drüben Augen und Ohren haben, denen wir vertrauen können", sagte Niko. „Scheiße, Gideon. Hätte nie gedacht, dass ich je was übrig haben könnte für einen Zivilisten aus den Dunklen Häfen, aber Andreas Reichen ist ein verdammt guter Verbündeter geworden. Vielleicht sollte Lucan ihn offiziell für den Orden rekrutieren?"

Gideon kicherte. „Denk bloß nicht, dass er noch nicht daran gedacht hat. Aber leider sind wir für Reichen bloß ein Teilzeithobby. Er hat vielleicht die Seele eines Kriegers, aber sein Herz gehört seinem Dunklen Hafen in Berlin."

Und einer gewissen Menschenfrau, soviel Nikolai mitbekommen hatte. Laut Tegan und Rio, den beiden Kriegern, die die meiste Zeit mit Andreas Reichen in seinem Berliner Hauptquartier verbracht hatten, war der Deutsche mit einer Bordellbesitzerin namens Helene liiert.

Es war ungewöhnlich für einen Stammesvampir, mehr als nur kurze, flüchtige Beziehungen mit normalsterblichen Frauen zu haben, aber Niko hatte nicht vor, sich daran zu stören, da sich auch Helene für die Informationsbeschaffung des Ordens in Europa als äußerst nützlich erwiesen hatte.

„Also, hör zu", sagte Gideon. „Dreh schön weiter Däumchen, wo immer du bist, und ich sag dir Bescheid, sobald ich deine Abflugdaten für heute Nacht reinkriege. In Ordnung?"

„Alles klar. Du weißt, wie du mich findest."

Das Murmeln einer samtigen Frauenstimme drang vage durch den Hörer, leise und verschlafen.

„Ach, Mist, Gid. Sag mir nicht, du bist gerade mit Savannah im Bett."

„War ich", erwiderte Gideon, mit Betonung auf der Vergangenheitsform. „Jetzt, da sie wach ist, sagt sie, sie schmeißt mich raus und gönnt sich lieber eine heiße Dusche und einen starken Kaffee."

Nikolai stöhnte. „Scheiße. Sag ihr, tut mir leid, dass ich euch unterbrochen habe."

„Hey, Babe", rief Gideon seiner Liebsten zu, mit der er seit über dreißig Jahren in Blutsverbindung lebte. „Niko sagt, es tut ihm leid, dass er so ein unhöflicher Mistkerl ist und dich zu dieser unchristlichen Zeit geweckt hat."

„Danke", murmelte Niko.

„Gern geschehen."

„Ich melde mich von unterwegs aus dem Flieger wieder bei dir."

„Klingt gut", sagte Gideon. Dann, zu Savannah: „Hey, Schatz?

Ich soll dir von Niko sagen, dass er jetzt auflegt. Er sagt, du sollst sofort wieder zu mir ins Bett kommen, damit ich dich ganz langsam vernaschen kann, von deinem klugen, wunderschönen Köpfchen bis zu deinen reizenden Zehchen."

Nikolai kicherte. „Klingt nach 'ner Menge Spaß. Schalte mich auf Lautsprecher, dass ich auch was davon habe."

Gideon schnaubte. „Kommt nicht infrage. Das ist meine."

„Alter Egoist", meinte Niko trocken. „Bis später." „Okay, bis später. Und Niko - was die Sache mit Jakut angeht: ernsthaft denk nicht mal dran, hier den Cowboy zu spielen, okay? Wir haben größere Probleme, mit denen wir fertig werden müssen, als zu versuchen, ein wandelndes Pulverlass von Gen Eins wegzusperren. Das ist nicht unsere Zuständigkeit und ganz besonders jetzt nicht."

Als Niko ihm nicht sofort zustimmte, räusperte sich Gideon. „Dein Schweigen beruhigt mich ganz und gar nicht, mein Alter. Ich muss wissen, dass du mich verstanden hast."

„Sicher", sagte Nikolai. „Klar und deutlich. Dann also bis später heute Nacht in Boston." Niko klappte sein Handy zu und steckte es wieder ein. So sehr es ihn auch wurmte, dass er über Jakut und seine kranken Machenschaften hinwegsehen musste, wusste er doch, dass Gideon recht hatte. Und er wusste auch, dass Lucan, der Anführer des Ordens, und die übrigen Krieger im Bostoner Hauptquartier ihm genau das Gleiche sagen würden.

Sergej Jakut vergessen, zumindest momentan, das war das Vernünftigste und Klügste, was er tun konnte.

Und wo er schon dabei war, konnte er auch so vernünftig sein und Renata vergessen. Die hatte sich ihr Leben so ausgesucht, und wenn sie es mit sadistischem Abschaum wie Sergej Jakut treiben wollte, ging das Nikolai einen Scheißdreck an. Der atemberaubende Eisklotz Renata war nicht sein Problem. Nur gut, dass er sie los war.

Genau wie das ganze Schlangennest, das er bei Jakut aufgedeckt hatte.

Nur noch ein paar Stunden totschlagen, bis es dunkel wurde, und dann lag das alles hinter ihm.

Sie hatte sich nie daran gewöhnen können, tagsüber zu schlafen, nicht in den ganzen zwei Jahren, die sie schon im Dienst eines Vampirs lebte.

Renata lag ruhelos in ihrem Bett, unfähig, sich zu entspannen und die Augen auch nur für ein paar Minuten zu schließen. Sie wälzte sich unruhig herum, drehte sich auf den Rücken und seufzte, starrte zu den hölzernen Dachbalken hinauf.

Dachte an den Krieger ... Nikolai.

Er war schon seit Stunden fort - schon fast einen halben Tag lang, aber immer noch spürte sie seine Verachtung schwer auf sich lasten. Dass er mitangesehen hatte, wie Jakut sich von ihr nährte, konnte sie kaum ertragen. Es war schwer gewesen, ihre Scham zu verbergen, als er ihren Blick vom anderen Ende des Raumes aufgefangen hatte. Sie hatte versucht, unbeteiligt, trotzig zu wirken. Innerlich hatte sie heftig gezittert, ihr Puls hatte gedröhnt wie ein Presslufthammer, war fast außer Kontrolle geraten.

Sie hatte nicht gewollt, dass Nikolai sie so sah. Noch schlimmer, dass er von Jakuts brutalen Verbrechen erfahren und ganz offensichtlich gedacht hatte, dass auch sie daran beteiligt war. Der vernichtende, anklagende Blick, mit dem er sie angesehen hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Was lächerlich war.

Nikolai war ein Stammesvampir, wie Jakut. Er war ein Vampir, genau wie Jakut. Wie Jakut musste auch Nikolai sich von Menschen nähren, um zu überleben. Selbst mit ihrem begrenzten Wissen über seine Spezies wusste Renata doch, dass menschliches Blut die einzige Nahrungsquelle für Stammesvampire war. Es gab keine praktischen, vampirfreundlichen Blutbanken, wo sie sich mal eben einen halben Liter Null-Negativ holen konnten. Und die Jagd auf Tiere konnte Menschenblut nicht ersetzen.

Sergej Jakut und alle übrigen Vampire wurden allesamt, vom gleichen Durst getrieben: nach den roten Zellen des Homo sapiens,  direkt aus   einer offenen Vene.

Sie waren tödliche, wilde Kreaturen, die die meiste Zeit über wie Menschen aussahen, denen aber in ihrem Inneren - in ihrer Seele, wenn sie denn überhaupt eine hatten - jede Menschlichkeit fehlte. Wie sie nur hatte denken können, dass Nikolai irgendwie anders sein sollte, war ihr selbst schleierhaft.

Aber er war irgendwie anders gewesen, wenn auch nur ein bisschen.

Als sie im Zwingerschuppen mit ihm gekämpft hatte - als er sie geküsst hatte, verdammt noch mal -, war er ihr in der Tat auffällig anders erschienen als all die anderen seiner Art, die sie kannte. Überhaupt nicht wie Jakut. Auch nicht wie Lex.

Was wohl nur wieder zeigte, was für eine Idiotin sie doch war.

Und schwach war sie auch. Wie konnte sie sich sonst erklären, dass sie sich so sehnlich gewünscht hatte, dass Nikolai sie hier herausholte, als er heute gegangen war? Sie gestattete sich nicht oft vergebliche Hoffnungen oder verschwendete Zeit damit, sich Dinge vorzustellen, die niemals geschehen konnten. Aber es hatte einen Augenblick gegeben ... einen kurzen, selbstsüchtigen Augenblick lang hatte sie sich vorgestellt, dass sie Sergej Jakuts Macht entrissen wurde.

Einen Augenblick lang hatte sie sich ohne jede Hemmung gefragt, wie es sich wohl anfühlen würde, frei von ihm zu sein, frei von allem, das sie hier hielt ... und das Gefühl war einfach unbeschreiblich gewesen.

Beschämt von ihren Gedanken schwang Renata ihre Beine über die Bettkante und setzte sich auf. Keine Minute konnte sie länger hier liegen bleiben, nicht, solange sich ihr der Kopf vor Gedanken drehte, die sie in keiner Weise weiterbrachten.

Tatsache war nun einmal, dass das hier ihr Leben war.

Jakuts Welt war ihre Welt, das Jagdhaus und seine unzähligen hässlichen Geheimnisse waren ihre Wirklichkeit, die sie nicht abschütteln konnte. Anfällig für Selbstmitleid war sie nicht, noch nie gewesen. Nicht damals als Kind in all den Jahren im klösterlichen Waisenhaus, und nicht an dem Tag, als man sie mit vierzehn Jahren gezwungen hatte, ihr Zuhause bei den barmherzigen Schwestern für immer zu verlassen.

Nicht einmal in jener Nacht vor erst zwei Sommern, als man sie von den Straßen von Montreal entführt, mit einer Gruppe anderer verängstigter Menschen auf Sergej Jakuts Anwesen gebracht und in die vergitterten Stallboxen im Schuppen eingesperrt hatte.

In all dieser Zeit halte sie keine einzelne Träne des Selbstmitleids vergossen. Und verdammt noch mal, damit wollte sie auch jetzt nicht anfangen.

Renata stand auf und verließ ihr bescheidenes Quartier. Um diese Zeit war es im Jagdhaus ruhig, die wenigen Fenster dicht vor den tödlichen Sonnenstrahlen verschlossen. Renata zog die dicke, eiserne Querstange aus der Vordertür und trat in einen herrlich warmen und strahlenden Sommernachmittag hinaus.

Sie ging direkt zum Zwingerschuppen.

Bei dem ganzen Drama der letzten Nacht, mit Nikolai und danach, hatte sie völlig vergessen, ihre Klingen hereinzuholen. Diese Unachtsamkeit ärgerte sie. Sie ließ ihre Dolche sonst nie aus den Augen. Sie waren ein Teil von ihr, seit dem Tag, als sie sie bekommen hatte.

„Dumm, dumm", flüsterte sie vor sich hin, als sie den alten Zwinger betrat. Sie sah zu dem Pfosten hinüber, erwartete, die Klinge, die sie nach Nikolai geworfen hatte, dort stecken zu sehen.

Sie war nicht da.

Sie schrie auf, ungläubig und voller Qual. Hatte sich der Krieger ihre Klingen genommen? Hatte er sie verdammt noch mal gestohlen? „Verdammt. Nein."

Renata stürmte durch den Mittelgang des Gebäudes ...

und blieb abrupt stehen, als sie den hinteren Teil des Schuppens erreichte und ihr Blick auf den dicken Strohballen neben dem vernarbten Pfosten fiel.

Darauf, sorgfältig zusammengefaltet und neben das Paar Schuhe gelegt, das sie letzte Nacht ebenfalls dort zurückgelassen hatte, lag die Hülle aus Seide und Samt, die ihre kostbaren Dolche enthielt. Sie hob sie auf, um sich zu vergewissern, dass sie nicht leer war. Als sie das vertraute Gewicht in ihrer Handfläche spürte, konnte sie nicht anders, sie musste lächeln. Nikolai.

Er hatte sich für sie um die Klingen gekümmert. Hatte sie eingesammelt, sie eingewickelt und für sie hiergelassen, als wüsste er, wie viel sie ihr bedeuteten.

Warum machte er so was? Was wollte er mit dieser Freundlichkeit erreichen? Dachte er womöglich, dass ihr Vertrauen so einfach zu haben war, oder hoffte er einfach nur auf eine erneute Chance, sich ihr aufzudrängen, wie er es mit diesem Kuss getan hatte?

Sie wollte wirklich nicht daran denken, wie es gewesen war, Nikolai zu küssen. Wenn sie jetzt nämlich an seinen Mund dachte, wie er auf ihrem lag, müsste sie zugeben, dass sein Kuss, so unerwartet und unwillkommen er auch gewesen sein mochte, alles andere als aufgezwungen war.

In Wahrheit hatte sie den Kuss genossen.

Heilige Muttergottes, allein schon an ihn zu denken entzündete eine langsame, flüssige Hitze in ihrer Mitte.

Sie hatte mehr von ihm haben wollen, obwohl all ihre Überlebensinstinkte in ihrem Körper losgeschrillt hatten wie eine Alarmsirene - nur weg von ihm und zwar schnell.

Sie hungerte nach ihm - vorhin und jetzt. Ein Teil von ihr, von dem sie lange gedacht hatte, dass er erfroren und tot war, brannte nun für ihn.

Dadurch dass sie sich das eingestand, wurde das, was er über Mira angedeutet hatte, nur umso beunruhigender - dass er in den Augen des Kindes sich und Renata in äußerst intimer Pose gesehen hatte.

Gott sei Dank war er fort.

Gott sei Dank, dass er wahrscheinlich nie wiederkam, nach allem, was er hier gesehen hatte.

Es war lange her, dass Renata sich hingekniet und gebetet hatte. Sie ging vor niemandem mehr in die Knie, nicht einmal vor Jakut, wenn er in seiner entsetzlichen Bestform war, aber jetzt senkte sie den Kopf und flehte den Himmel an, Nikolai von diesem Ort fernzuhalten.

Weit weg von ihr.

Da sie nicht mehr in der Stimmung für Training war und schon gar nicht mit diesen allzu lebhaften Erinnerungen an letzte Nacht im Kopf, schnappte Renata sich ihre Schuhe und ging zum Haus zurück. Sie betrat das Haus, schob die Stange wieder vor die Tür und ging dann den Gang hinunter, der zu ihrem Zimmer führte, um dort hoffentlich wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu finden.

Noch bevor sie bemerkte, dass Miras Tür einen Spaltbreit aufstand, spürte sie, dass etwas nicht stimmte.

Im Zimmer des Kindes brannte kein Licht, aber sie war wach. Renata hörte ihr leises Stimmchen im Dunkeln, sie klagte, dass sie müde war und nicht aufstehen wollte. Ob sie wieder Albträume hatte? Renata fühlte einen Anflug von Mitgefühl mit dem Kind. Aber dann zischte eine andere Stimme über Miras schläfrigen Protest hinweg, kalt und barsch, abgehackt vor Ungeduld.

„Hör auf zu jammern und mach die Augen auf, du kleines Miststück."

Diese Stimme kannte sie nur zu gut. Renata drückte gegen die getäfelte Tür und stieß sie weit auf. „Was zur Hölle machst du da, Lex?"

Er stand über Miras Bett gebeugt, hatte die Schultern des Kindes so fest gepackt, dass es ihr wehtun musste. Sein Kopf fuhr herum, als Renata ins Zimmer kam, aber er ließ Mira nicht los. „Ich brauche das Orakel meines Vaters. Und dir bin ich keine Rechenschaft schuldig, also sei so gut und verpiss dich."

„Rennie, er tut meinen Armen weh." Miras Stimme war leise, gepresst vor Schmerz.

„Augen auf, fauchte Lex sie an. „Dann werde ich vielleicht aufhören, dir wehzutun."

„Lass sie los, Lex." Renata blieb am Fußende des Bettes stehen, die Klingen in der Stoffhülle wogen schwer und verlockend in ihrer Hand. „Loslassen. Sofort."

Lex schnaubte höhnisch. „Nicht, bevor ich mit ihr fertig bin."

Als er Mira heftig schüttelte, feuerte Renata einen mentalen Wutstrahl auf ihn ab.

Es war nur ein Spritzer ihrer Macht, nur ein Bruchteil dessen, was sie ihm antun konnte, aber Lex heulte auf, sein Körper zuckte, als hätte ihn ein Stromstoß von mehreren tausend Volt getroffen. Er taumelte zurück, ließ Mira fallen und fiel in einiger Entfernung des Bettes auf den Boden, mit dem Hintern voran.

„Du Schlampe!" Seine Augen sprühten bernsteingelbes Feuer, die Pupillen zu schmalen Schlitzen verengt. „Dafür sollte ich dich töten. Euch alle beide, dich und die Göre!"

Wieder versetzte Renata ihm einen mentalen Schlag, wieder nur eine kleine Kostprobe wirklicher Qualen. Er sackte zusammen und hielt sich stöhnend den Kopf. Sie wartete, beobachtete ihn, wie er sich mit Mühe vom Boden aufrappelte. In diesem Zustand stellte er keine sonderliche Bedrohung für sie dar, aber schon in ein paar Stunden würde er sich wieder erholt haben, und dann würde sie die Verletzliche sein. Dann würde er den Spieß umdrehen, und sie wusste, es würde die reine Hölle werden.

Aber momentan war Mira für Lex nicht länger von Interesse, und das war alles, worauf es ankam.

Lex starrte wütend zu ihr auf, während er mühsam auf die Füße kam. „Geh mir aus dem ... Weg ... verdammte ...

Hure", stammelte er erstickt zwischen keuchenden Atemzügen und stolperte unbeholfen auf die offene Tür zu.

Sobald er außer Sichtweite war, ging Renata zu Miras Bettrand und tröstete sie leise.

„Bist du okay, Kleines?"

Mira nickte. „Ich mag ihn nicht, Rennie. Er macht mir Angst."

„Ich weiß, Süße." Renata drückte dem Kind einen Kuss auf die Stirn. „Ich werde nicht zulassen, dass er dir weh tut.

Bei mir bist du in Sicherheit. Versprochen, ja?"

Wieder nickte Mira, schwächer dieses Mal. Sie ließ ihren Kopf wieder auf das Kissen sinken und stieß einen tiefen, schläfrigen Seufzer aus. „Rennie?", fragte sie leise.

„Ja, Mäuschen?"

„Verlass mich nie, okay?" Renata starrte hinunter auf das unschuldige kleine Gesicht im Dunkel und spürte wie ihr Herz sich fest zusammenzog.

„Ich verlasse dich nicht, Mira. Nie ... das haben wir doch abgemacht."

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